Veröffentlicht am 20 Feb, 2024
WISSENSCHAFT

Kindheitstraumata und somatische sowie psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter

Ergebnisse der NAKO Gesundheitsstudie

PP 23, Ausgabe Februar 2024, Seite 82

https://www.aerzteblatt.de/archiv/237425?rt=e86455050c06a5cf14bf84715fd9c7cd

Klinger-König, JohannaErhardt, AngelikaStreit, FabianVölker, Maja P.Schulze, Matthias B.Keil, ThomasFricke, JuliaCastell, StefanieKlett-Tammen, Carolina J.Pischon, TobiasKarch, AndréTeismann, HenningMichels, Karin B.Greiser, K. HalinaBecher, HeikoKarrasch, StefanAhrens, WolfgangMeinke-Franze, ClaudiaSchipf, SabineMikolajczyk, RafaelFührer, AmandBrandes, BeritSchmidt, BörgeEmmel, CarinaLeitzmann, MichaelKonzok, JulianPeters, AnetteObi, NadiaBrenner, HermannHolleczek, BerndVelásquez, Ilais MorenoDeckert, JürgenBaune, Bernhard T.Rietschel, MarcellaBerger, KlausGrabe, Hans J.

Hintergrund: Kindheitstraumata sind mit psychischen und somatischen Erkrankungen im Erwachsenenalter assoziiert. Die Assoziationsstärke unterscheidet sich nach Alter, Geschlecht und Traumaart. Bisherige Studien fokussierten mehrheitlich auf einzelne Erkrankungen. Die vorliegende Studie untersucht den Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und unterschiedlichen somatischen und psychischen Erkrankungen.

Methode: Daten von 156 807 Teilnehmenden der NAKO Gesundheitsstudie wurden mittels logistischer Regressionen analysiert, adjustiert für Alter, Geschlecht, Bildungsjahre und Untersuchungsort. Der Childhood Trauma Screener differenzierte zwischen keinem/geringem (n = 115 891) und moderatem/schwerem Kindheitstrauma (n = 40 916). Als Outcome-Variablen dienten anamnestisch angegebene ärztliche Diagnosen fünf somatischer und zwei psychischer Erkrankungen.

Ergebnisse: Personen mit Kindheitstraumata wiesen eine erhöhte Diagnosewahrscheinlichkeit für alle untersuchten Erkrankungen auf: Krebserkrankungen (Odds Ratio [OR] = 1,10; 95-%-Konfidenzintervall: [1,05; 1,15]), Myokardinfarkt (OR = 1,13; [1,03; 1,24]), Diabetes (OR = 1,16; [1,10; 1,23]), Schlaganfall (OR = 1,35; [1,23; 1,48]), chronisch obstruktive Lungenerkrankung (OR = 1,45; [1,38; 1,52]), Depression (OR = 2,36; [2,29; 2,43]) und Angsterkrankungen (OR = 2,08; [2,00; 2,17]). Diese Zusammenhänge waren umso stärker, je jünger die Teilnehmenden waren, unabhängig von der Traumaart. Geschlechtsunterschiede wurden nur für einzelne Zusammenhänge beobachtet.

Schlussfolgerung: Kindheitstraumata waren nicht nur mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung psychischer, sondern auch somatischer Erkrankungen im Erwachsenenalter assoziiert. Da Kindheitstraumata ein Teil der individuellen Vergangenheit sind, die durch die betroffene Person kaum oder gar nicht beeinflusst werden können und da die damit verbundenen Erkrankungen im Erwachsenenalter eine hohe persönliche und gesellschaftliche Krankheitslast haben, ist die Erforschung dieser Zusammenhänge sowie die Entwicklung präventiver Maßnahmen von besonderer Bedeutung.

Kindheitstraumata wurden mit einer erhöhten Diagnosewahrscheinlichkeit für zahlreiche somatische und psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter assoziiert, insbesondere mit Herz-Kreislauf-, metabolischen und Atemwegserkrankungen sowie affektiven und Angststörungen (12345). Der Begriff Kindheitstrauma subsumiert emotionalen, physischen und sexuellen Missbrauch sowie emotionale und physische Vernachlässigung während der Kindheit und Jugend (67). In Deutschland berichten 20–30 % der Erwachsenen, mindestens eines dieser Kindheitstraumata erlebt zu haben (89).

Weleff und Potter (10) diskutieren drei Wege über die Kindheitstraumata mit somatischen Erkrankungen im Erwachsenenalter verbunden sein könnten:

  • ein schlechteres Gesundheitsverhalten
  • eine schlechtere psychische Gesundheit
  • biologische Veränderungen.

Im Gegensatz zu verhaltensbezogenen Faktoren sind Kindheitstraumata zeitlich eindeutig vor der Erkrankung im Erwachsenenalter verankert und durch die betroffene Person kaum oder gar nicht beinflussbar (11). Bisher gefundene Mediationseffekte von verhaltensbezogenen Faktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Übergewicht waren jedoch gering (12). In einer Studie von Shields et al. (13) wurden Zusammenhänge zwischen Kindheitstraumata und einer Diabetesdiagnose auch dann beobachtet, wenn verhaltensbezogene Faktoren und Depression berücksichtigt wurden.

Bisherige Untersuchungen zeigten, dass die Assoziationsstärke mit der Traumaart variiert, und dass das Alter zum Zeitpunkt der Befragung sowie Geschlecht relevante Moderatoren des Zusammenhangs von Kindheitstraumata und Erkrankungen im Erwachsenenalter sind (14). Für somatische Erkrankungen im Allgmeinen wurden stärkere Zusammenhänge bei Frauen als bei Männern beobachtet (114). Für Myokardinfarkt und Schlaganfall wurde dagegen vor allem ein Zusammenhang bei Männern mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit berichtet (1516). Bei Diabetes fokussierten subtypenspezifische Studien meist auf den Typ-2-Diabetes und zeigten häufigere Diagnosen nach Kindheitstraumata mit heterogenen Befunden zur Traumaart (1417). Studien zum Gestationsdiabetes sind selten, deuten aber auf vergleichbare Zusammenhänge insbesondere nach Missbrauchserfahrungen hin (18). Uneinheitlich sind auch die Befunde zu psychischen Erkrankungen (1). Missbrauchserfahrungen in der Kindheit wurden mit häufigeren Depressionsdiagnosen bei Frauen assoziiert (31920). Insbesondere emotionaler Missbrauch und emotionale Vernachlässigung zeigten sich aber als geschlechtsunabhängige Faktoren im Zusammenhang mit einer Depression (38).

Unterschiedliche Alters- und Geschlechtsverteilungen der Studien und ein Fokus auf einzelne Erkrankungen erschweren die Vergleichbarkeit bisheriger Befunde. Das Ziel der aktuellen Studie war daher ein direkter Vergleich der Zusammenhänge unterschiedlicher Erkrankungen mit Kindheitstraumata innerhalb einer Stichprobe. Hierzu wurden Daten der Basiserhebung der NAKO Gesundheitsstudie – der größten Bevölkerungsstudie Deutschlands (2122) – genutzt. Als erkrankungsübergreifende, vergleichende Grundlage für erkrankungsspezifische Assoziationsstudien wurden Zusammenhänge zwischen Kindheitstraumata und somatischen sowie psychischen Erkrankungen im Querschnitt untersucht. Fokussiert wurde auf

  • Krebserkrankungen
  • Myokardinfarkt
  • Schlaganfall
  • Diabetes
  • chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)
  • Angsterkrankungen
  • Depression.

Bei steigender Inzidenz haben die ausgewählten Erkrankungen einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen und einen hohen medizinischen Behandlungsbedarf (11). So zählen Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen zu den häufigsten Todesursachen; psychische Erkrankungen verursachen die meisten Arbeitsunfähigkeitstage und Frühberentungen (11).

Methode

Studienpopulation

Während der NAKO-Basiserhebung wurden zwischen 2014 und 2019 Daten von > 205 000 Erwachsenen der Allgemeinbevölkerung Deutschlands in 18 Studienzentren in 13 Bundesländern erhoben (22). Detaillierte Angaben zur Stichprobenziehung sowie zu Einschlusskriterien und Studienprotokollen sind bei Peters et al. nachzulesen (22).

Die Ethikkomitees aller Studienzentren erteilten ein positives Votum. Von allen Teilnehmenden liegt eine schriftliche Einverständniserklärung zur Studienteilnahme und Datenverwertung vor. Die NAKO Gesundheitsstudie und alle Auswertungen wurden entsprechend der Deklaration von Helsinki durchgeführt.

Interview

In einem standardisierten, strukturierten, computergestützten Interview wurden folgende Parameter ermittelt:

  • Alter zum Zeitpunkt der NAKO-Basiserhebung (kontinuierlich sowie Altersklassen für < 40 Jahre, 40–60 Jahre und > 60 Jahre)
  • Geschlecht (männlich/weiblich)
  • Bildungsstand der Teilnehmenden (Bildungsjahre entsprechend der Internationalen Standardklassifikation des Bildungswesens; ISCED-97 [23, 24]).

Teilnehmende, für die keine Bildungsjahre berechnet werden konnten, wurden aus den Analysen ausgeschlossen (n = 18 719).

Die Teilnehmenden gaben darüber hinaus Auskunft, ob „jemals von einem Arzt oder einem Psychotherapeuten“ eine der folgenden Erkrankungen bei ihnen diagnostiziert wurde (Ja/Nein):

  • Krebserkrankung (nachfolgend: Krebs)
  • Myokardinfarkt
  • Schlaganfall
  • Zuckerkrankheit beziehungsweise Diabetes mellitus (nachfolgend: Diabetes)
  • chronische Bronchitis oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung (nachfolgend: COPD)
  • Angsterkrankung oder Panikattacke (nachfolgend: Angst)
  • Depression.

Um auf Fälle mit Typ-2-Diabetes zu fokussieren, wurden Teilnehmende, die bei Diabeteserstdiagnose < 40 Jahre waren, von den diabetesbezogenen Analysen ausgeschlossen (n = 2 903). Zusätzliche Informationen zur sicheren Identifikation eines Typ-1-Diabetes oder Gestationsdiabetes waren in der aktuellen Studie nicht verfügbar.

Kindheitstraumata

Kindheitstraumata wurden innerhalb eines Selbstbeantwortungsmoduls über den Childhood Trauma Screener (CTS), einer Kurzversion des Childhood Trauma Questionnaire (CTQ), erhoben (67). Mit jeweils einem Item werden mit diesem Instrument fünf Traumaarten erfasst: emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch sowie emotionale und körperliche Vernachlässigung.

Die Items werden auf einer fünfstufigen Skala („gar nicht“ bis „sehr häufig“) beantwortet. Für alle Items wurde zwischen keinem/geringem und moderatem/schwerem Kindheitstrauma differenziert (25). Ein Globalwert erfasste, ob mindestens ein moderates/schweres Kindheitstrauma berichtet wurde, unabhängig von der Art. Die Anzahl der Kindheitstraumata erfasste, wie viele Arten moderater/schwerer Kindheitstraumata berichtet wurden. Die eSupplement-Tabelle 1 zeigt eine Verteilung der Anzahl und Arten der Kindheitstraumata. Teilnehmende mit fehlenden CTS-Werten wurden aus den Analysen ausgeschlossen (n = 32 782).

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Tabelle 1

Charakteristika der Teilnehmenden der NAKO-Basiserhebung (N = 156 807) sowie separiert nach Geschlecht und Altersklassen

Statistische Analysen

Alle Analysen wurden mit R (Version 4.2.1) durchgeführt und basieren auf den Angaben von 156 807 Teilnehmenden mit verfügbaren Daten der Bildungsjahre und des CTS. Die Diagnosewahrscheinlichkeit für die Erkrankungen wurde mittels multipler logistischer Regressionen mit robusten Standardfehlern und 95-%-Konfidenzintervallen (95-%-KI) prädiziert. Die False-Discovery-Rate (FDR) wurde genutzt, um für multiples Testen zu adjustieren (q-values) (26).

Alle Analysen wurden adjustiert für das Alter zur NAKO-Basiserhebung, Geschlecht, Bildungsjahre und Untersuchungsort. Der Untersuchungsort wurde zur Adjustierung der multizentrischen Erhebung verwendet (92728). Alter, Geschlecht und Bildung wurden wiederholt als wichtige Confounder und Moderatoren im Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und Erkrankungen im Erwachsenenalter dargelegt (14915).

Verhaltensbezogene Variablen wie Rauchen und Alkoholkonsum wurden nur zur NAKO-Basiserhebung erfragt, nicht aber zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Somit konnte nicht eindeutig definiert werden, ob die Verhaltensweisen der Erkrankung zeitlich vorausgingen. Auf eine Adjustierung wurde daher zunächst verzichtet.

Der globale, dichotomisierte CTS-Wert wurde als Prädiktor verwendet, um Zusammenhänge zwischen moderatem/schwerem Kindheitstraumata im Allgemeinen und den Erkrankungen zu prüfen. Die Größe der Analysestichprobe variierte aufgrund von fehlenden Werten für die Erkrankungen leicht. Zusätzlich wurden Zusammenhänge mit unterschiedlichen Traumaarten mithilfe der dichotomisierten CTS-Items untersucht. Die Anzahl der Kindheitstraumata wurde als kontinuierlicher Prädiktor genutzt, um den Einfluss multipler Traumatisierung zu prüfen. Moderierende Einflüsse von Geschlecht und Alter wurden durch Geschlechts- und Altersinteraktionen getestet. Für Altersinteraktionen wurden die definierten Altersklassen verwendet. Die Fallzahlen für Myokardinfarkt (n = 9) und Schlaganfall (n = 48) bei Teilnehmenden < 40 Jahre waren sehr gering. Diese Altersklasse wurde in den entsprechenden Analysen exkludiert. Für deskriptive Zwecke wurden geschlechts- und altersklassenstratifizierte Analysen berechnet.

Ergebnisse

Deskriptive Statistiken zu den Daten der Teilnehmenden sowie separiert nach Geschlecht und Altersklassen sind in Tabelle 1 dargestellt. Frauen und Teilnehmende ≥ 40 Jahre berichteten häufiger über Kindheitstraumata. Ein Drittel der Teilnehmenden mit Kindheitstraumata nannte multiple Traumaarten, wobei die Kombination emotionaler und körperlicher Kindheitstraumata deskriptiv am häufigsten beobachtet wurde (eSupplement-Tabelle 1). Frauen meldeten häufiger Krebs-, Angst- und Depressionsdiagnosen. Männer gaben häufiger Diagnosen von Myokardinfarkt und Diabetes an. Somatische Erkrankungen wurden mit steigender Altersklasse häufiger berichtet. Dagegen waren in den Altersklassen ≥ 40 Jahren keine Häufigkeitsunterschiede für psychische Erkrankungen erkennbar.

Basierend auf adjustierten logistischen Regressionsanalysen variierte die Assoziationsstärke zwischen mindestens einem moderaten/schweren Kindheitstrauma und einer Erkrankung, je nach fokussierter Krankheit (Grafik 1, eGrafik 1 und Tabelle 2). Bei den somatischen Erkrankungen war die Diagnosewahrscheinlichkeit nach mindestens einem moderaten/schweren Kindheitstrauma um 10–45 % höher: Für Krebs (Odds Ratio [OR] = 1,10; 95-%-KI [1,05; 1,15], q-value < 0,001), Myokardinfarkt (OR = 1,13; [1,03; 1,24], q-value = 0,028) und Diabetes (OR = 1,16; [1,10; 1,23], q-value < 0,001) wurden die geringsten Zusammenhänge gefunden. Etwas stärker waren die Zusammenhänge für Schlaganfall (OR = 1,35; [1,23; 1,48], q-value < 0,001) und COPD (OR = 1,45; [1,38; 1,52], q-value < 0,001). Die stärksten Zusammenhänge zeigten sich für Angst (OR = 2,08; [2,00; 2,17], q-value < 0,001) und Depression (OR = 2,36; [2,29; 2,43], q-value < 0,001). Die Diagnosewahrscheinlichkeit für eine dieser psychischen Erkrankungen war demnach bei Teilnehmenden mit moderaten/schweren Kindheitstraumata verdoppelt.

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Grafik 1

Erkrankungshäufigkeiten für somatische und psychische Erkrankungen

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Tabelle 2

Haupteffekte, Geschlechts- und Altersinteraktionen von Kindheitstraumata mit somatischen und psychischen Erkrankungen bei Teilnehmenden der NAKO-Basiserhebung

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eGrafik 1

Haupteffekte

Unterschiede bezüglich der Traumaart sind in Grafik 2 und der eSupplement-Tabelle 2 dargestellt. Für Krebs (OR = 0,96 [0,91; 1,03], q-value = 0,743), Myokardinfarkt (OR = 0,98 [0,87; 1,11], q-value = 1,000) und Diabetes (OR = 1,06 [0,98; 1,14], q-value = 0,617) waren die Diagnosewahrscheinlichkeiten nach körperlicher Vernachlässigung unverändert. Für Schlaganfall (OR = 1,27 [1,13; 1,44], q-value < 0,001), COPD (OR = 1,14 [1,07; 1,23], q-value < 0,001), Angst (OR = 1,24 [1,17; 1,32], q-value < 0,001) und Depression (OR = 1,23 [1,18; 1,29], q-value < 0,001) hingegen war die Erkrankungswahrscheinlichkeit um 14–27 % höher. Die Stärke des Zusammenhangs mit Missbrauch und emotionalen Kindheitstraumata war für Krebs (12–23 % höhere Wahrscheinlichkeit) und Schlaganfall (43–59 % höhere Wahrscheinlichkeit) jeweils vergleichbar. Für Myokardinfarkt (16–52 % höhere Wahrscheinlichkeit), Diabetes (20–50 % höhere Wahrscheinlichkeit) und COPD (65–89 % höhere Wahrscheinlichkeit) stieg die Stärke des Zusammenhangs von emotionaler Vernachlässigung über körperlichen Missbrauch zu emotionalem Missbrauch sukzessive an. Für psychische Erkrankungen waren die Zusammenhänge nach emotionalen Kindheitstraumata am größten (etwa 3-fach höhere Wahrscheinlichkeit). Eine höhere Anzahl der Kindheitstraumata war für alle Erkrankungen mit einer höheren Diagnosewahrscheinlichkeit assoziiert (eSupplement-Tabelle 3). Auch hierbei war die Stärke der Zusammenhänge für somatische Erkrankungen geringer (8–35 % höhere Wahrscheinlichkeit) als für psychische Erkrankungen (67–83 % höhere Wahrscheinlichkeit).

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Grafik 2

Odds Ratios eines Grafik 2 moderaten/schweren Kindheitstraumas für somatische und psychische Erkrankungen

Es wurden nur wenige Geschlechtsunterschiede in den Zusammenhängen zwischen Kindheitstraumata und der Erkrankungswahrscheinlichkeit beobachtet (eGrafik 2, Tabelle 2, eSupplement-Tabellen 3–9). Die Wahrscheinlichkeit für die Diagnose von Krebs (Interaktion: OR = 1,13 [1,03; 1,23], q-value = 0,049), COPD (Interaktion: OR = 1,30 [1,18; 1,44], qvalue < 0,001) und einer Depression (Interaktion: OR = 1,14 [1,08; 1,22], q-value < 0,001) war bei Frauen nach Kindheitstraumata jeweils höher als bei Männern. Diese Unterschiede fanden sich vor allem bei körperlichen Kindheitstraumata (eSupplement-Tabellen 5 und 7). Weitere Geschlechtsunterschiede waren auf einzelne Traumaarten beschränkt (eSupplement-Tabellen 5–9).

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eGrafik 2

Geschlechtsinteraktionen

Für alle Erkrankungen war der Zusammenhang zwischen moderaten/schweren Kindheitstraumata und der Diagnosewahrscheinlichkeit für Erkrankungen im Erwachsenenalter geringer, umso älter die Teilnehmenden zur NAKO-Basiserhebung waren (eGrafik 3, Tabelle 2, eSupplement-Tabellen 3 und 10–15). Die geringste Altersabhängigkeit war für Schlaganfall (Interaktion: χ² = 5,19, q-value = 0,193) und COPD (Interaktion: χ² = 6,65, q-value = 0,109) zu verzeichnen. Die stärksten altersabhängigen Effekte waren für eine Depression zu beobachten (Interaktion: χ² = 108,05, q-value < 0,001). Diese Ergebnisse wurden auch durch die Assoziation mit der Anzahl der Kindheitstraumata bestätigt (eSupplement-Tabelle 3). Nach körperlichem Missbrauch wurden altersabhängige Zusammenhänge für nahezu alle Erkrankungen beobachtet (eSupplement-Tabelle 13). Die Altersunterschiede waren für Angst und Depression am wenigsten von der Traumaart abhängig (eSupplement-Tabellen 11–15).

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eGrafik 3

Altersinteraktionen

Diskussion

Mit Daten der NAKO Gesundheitsstudie wurde der Zusammenhang zwischen Kindheitstrauma und der Diagnosewahrscheinlichkeit ausgewählter somatischer sowie psychischer Erkrankungen im Erwachsenenalter untersucht. Die Zusammenhänge mit psychischen Erkrankungen waren dabei stärker als mit somatischen Erkrankungen. Eine Abhängigkeit der Zusammenhänge von Geschlecht, Alter zum Zeitpunkt der NAKO-Basiserhebung und Traumaart wurde ebenfalls analysiert.

Kongruent zu einer früheren Metaanalyse wurden die stärksten Zusammenhänge zwischen emotionalen Kindheitstraumata und einer Depression beobachtet; die Zusammenhänge zwischen einer Depression und sexuellem sowie physischem Missbrauch waren geringer (20). Für Depressionsdiagnosen nach emotionalen Kindheitstraumata wurden keine Geschlechtsunterschiede gefunden (3). Dagegen war in der aktuellen Studie nach körperlichem Missbrauch die Depressionswahrscheinlichkeit bei Frauen höher. Nach sexuellem Missbrauch war der Zusammenhang mit Depressionen bei Männern stärker. Insgesamt bestätigen die Ergebnisse jedoch die Befunde einer Metaanalyse zu geringen Geschlechtsunterschieden (12). Für den Zusammenhang zwischen Angsterkrankungen und Kindheitstraumata wurden keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen beobachtet. Bei Frauen zeigte sich eine höhere Wahrscheinlichkeit für COPD nach Vernachlässigung und körperlichem Kindheitstrauma. Geschlechtsunterschiede bei Schlaganfall und Myokardinfarkt wurden nur vereinzelt gefunden.

Für alle untersuchten Erkrankungen war der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und Diagnosewahrscheinlichkeit für ältere Teilnehmende der NAKO-Basiserhebung schwächer als für jüngere. Die Altersunterschiede waren bei Depression am deutlichsten, bei COPD und Schlaganfall am geringsten. Die Ergebnisse könnten darauf hinweisen, dass Kindheitstraumata umso stärker mit einer Diagnose assoziiert sind, je näher der Erkrankungsbeginn am Zeitpunkt der Traumatisierung liegt. So liegt das Erkrankungsalter bei einer Depression meist im frühen Erwachsenenalter (29). Im Gegensatz hierzu steigt die Häufigkeit einer COPD mit zunehmendem Alter an (30). Zudem wurde berichtet, dass Kindheitstraumata mit einem jüngeren Erstdiagnosealter einer Depression assoziiert wurden (13). Aufgrund des unterschiedlichen Alters zu Krankheitsbeginn bilden die Diabetessubtypen eine gute Möglichkeit, diese Hypothese innerhalb einer Erkrankungsgruppe zu untersuchen. Allerdings werden die Zusammenhänge mit Kindheitstraumata bisher selten subtypenspezifisch erforscht. Ein zweiter möglicher Faktor ist der Anstieg der Anzahl und Schwere von Komorbiditäten im Alter (31). Der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und Diagnosewahrscheinlichkeit einer spezifischen Erkrankung bei spätem Krankheitsbeginn könnte dadurch abgeschwächt werden. Künftige Studien sollten daher Komorbiditäten berücksichtigen.

Neben einer erhöhten Krankheitsinzidenz und einem früheren Erkrankungsalter wurden nach Kindheitstraumata auch schwerere Erkrankungsverläufe festgestellt (13413). So wurden Kindheitstraumata mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert (32). Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen weisen in Deutschland die höchste jährliche Sterberate auf, während die Depression mit den meisten Krankheitstagen und Frühberentungen assoziiert ist (11). Eine Depression ist eine häufige Komorbidität psychischer, aber auch somatischer Erkrankungen (33). Im Erwachsenenalter wird die jährliche finanzielle Belastung des Gesundheitssystems durch eine Depression mehr als verdoppelt (34). Basierend auf deutschen Versicherungsdaten verursacht jede Depression im ersten Diagnosejahr eine Mehrbelastung von 3 000 Euro und von 1 500 Euro in den Folgejahren (35). Durch präventive Programme und frühzeitige Hilfen für Betroffene könnte die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Erkrankung gesenkt werden (3637). Doch auch bei bestehender Erkrankung könnte eine Behandlung von Kindheitstraumata die individuelle Lebensqualität und Krankheitsprognose verbessern.

Limitationen

Als limitierend ist anzumerken, dass Kindheitstraumata in einer subjektiven Selbstangabe erfasst wurden und jede Traumaart mit nur einem Item abgebildet war. Einige Teilnehmende mussten aufgrund fehlender Angaben für Kindheitstraumata ausgeschlossen werden. Die fehlenden Angaben waren jedoch nicht auf einzelne Items beschränkt (9). Aufgrund der retrospektiven Selbstangabe können Verzerrungen durch Erinnerungseffekte oder die aktuelle psychische Symptomatik nicht ausgeschlossen werden. Studien berichteten jedoch, dass sowohl eine Über- als auch Unterschätzung für Kindheitstraumata beobachtet wurden, abhängig sowohl vom aktuellen Gesundheitszustand als auch der Persönlichkeit, sodass von einer Verzerrung in beide Richtungen ausgegangen werden sollte (3839).

Die ärztliche Lebenszeitdiagnose somatischer und psychischer Erkrankungen wurde ebenfalls mit Selbstangaben erfasst. Weder das Alter zu Erkrankungsbeginn, noch eine aktuelle Behandlung oder der aktuelle Schweregrad der Erkrankung wurden einbezogen. Weiterführende Analysen unter Einbezug dieser Informationen sind notwendig. Auch das abgebildete Spektrum psychischer Erkrankungen ist eher klein. Informationen zu weiteren ärztlich diagnostizierten psychischen Erkrankungen liegen in NAKO nicht vor. Verhaltensbezogene Faktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Übergewicht wurden zum Zeitpunkt der NAKO-Basiserhebung erfragt. Es ist nicht problemlos möglich, die Faktoren mit dem Zeitpunkt der Diagnosestellung in Verbindung zu setzen. Damit ist unklar, ob diese Faktoren der Erkrankung tatsächlich vorausgingen. Auf die Integration ungesunder Verhaltensweisen als potenzielle Mediatoren wurde daher verzichtet. Unter Einbezug des zeitlichen Verhältnisses von verhaltensbezogenen Faktoren und Erkrankungen sollten in künftigen Studien differenziertere Subgruppenanalysen durchgeführt werden, um derartige Mediationshypothesen zu testen.

Resümee

Das Ziel der aktuellen Studie war es, den Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und somatischen sowie psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter zu untersuchen. Die NAKO Gesundheitsstudie bietet die Möglichkeit diese Zusammenhänge innerhalb derselben Stichprobe zu analysieren und so die Erkrankungen direkt miteinander zu vergleichen. Fokussiert wurde auf Erkrankungen mit großer persönlicher und gesellschaftlicher Krankheitslast. Künftig sollten die Ergebnisse auf weitere Störungsbilder und Krankheiten insbesondere im psychiatrischen Bereich ausgeweitet und um Analysen zu somatischer und psychischer Komorbidität und eventuelle Mediationseffekte ergänzt werden. Entsprechend des Ziels der aktuellen Studie wurde ein erster krankheitsübergreifender, vergleichender Überblick über die untersuchten Zusammenhänge gegeben. Erkrankungsspezifischere Studien sollten auf diesen Ergebnissen aufbauen und die Erkenntnisse vertiefen.

Interessenkonflikt

TP ist Mitglied im Vorstand des NAKO e.V. und bevollmächtigter Vertreter des MDC im NAKO e.V.

Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Finanzierung

Die NAKO Gesundheitsstudie wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (01ER1301A/B/C und 01ER1511D), die Bundesländer und die Helmholtz-Gemeinschaft. Die Helmholtz-Gemeinschaft unterstützt die NAKO Gesundheitsstudie über programmorientierte Förderung III und IV. Zusätzliche finanzielle Unterstützung entstammt den beteiligten Universitäten und der Leibniz-Gemeinschaft.

Manuskriptdaten
eingereicht: 10.07.2023, revidierte Fassung angenommen: 10.10.2023

Anschrift der korrespondierenden Verfasserin
Dipl. Psych. Johanna Klinger-König
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald
Ellernholzstraße 1–2, 17489 Greifswald
johanna.klinger-koenig@med.uni-greifswald.de

Zitierweise
Klinger-König J, Erhardt A, Streit F, Völker MP, Schulze MB, Keil T, Fricke J, Castell S, Klett-Tammen CJ, Pischon T, Karch A, Teismann H, Michels KB, Greiser KH, Becher H, Karrasch S, Ahrens W, Meinke-Franze C, Schipf S, Mikolajczyk R, Führer A, Brandes B, Schmidt B, Emmel C, Leitzmann M, Konzok J, Peters A, Obi N, Brenner H, Holleczek B, Moreno Velàsquez I, Deckert J, Baune BT, Rietschel M, Berger K, Grabe HJ: Childhood trauma and somatic and mental illness in adulthood—findings of the NAKO health study. Dtsch Arztebl Int 2024; 121: 1–8. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0225

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