ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2024Kinderschutz: Vernachlässigung ist kein Randgruppenphänomen
POLITIK
PP 23, Ausgabe Oktober 2024, Seite 449
Bühring, Petra
- Vernachlässigung steht in der Jugendhilfestatistik an der Spitze der festgestellten Misshandlungsformen, und ist bei Kindern unter einem Jahr am häufigsten. Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und -therapeuten sollten bei Verdacht nicht wegsehen.
Emotionale und körperliche Vernachlässigung können erhebliche Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und für Erwachsenenleben haben. Bei der Medizinischen Kinderschutzhotline (MKS) ist die Vernachlässigung tatsächlich der häufigste Grund für Anfragen. „Wir hören weiterhin große Unsicherheiten im Umgang mit vernachlässigten Kindern“, sagte Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, bei dem Fachtag der MKS mit dem Titel „Erhebliche Vernachlässigung“ Anfang September im Bundesfamilienministerium in Berlin.
Fegert ist Projektleiter der MKS. Er forderte von der Politik nicht nur die seit 2016 bestehende Hotline wie vorgesehen zu verstetigen, sondern auch die 24-Stunden-Erreichbarkeit gesetzlich langfristig abzusichern. Das entsprechende „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ befindet sich zurzeit im parlamentarischen Verfahren.
„Wenn man Erwachsene fragt, ob sie mittelschwere Vernachlässigung oder Misshandlung in der Kindheit erlebt haben, so wie wir im ‚Childhood Trauma Questionnaire‘, dann bejahen ein Drittel der Befragten dies“, berichtete der Wissenschaftler. „Vernachlässigung ist also kein Randgruppenphänomen.“ Insgesamt liege Vernachlässigung an der Spitze der festgestellten Misshandlungsformen, und sei bei Kindern unter einem Jahr am häufigsten.
Der Jugendhilfestatistik zufolge waren 2022 in Deutschland 36 736 Fälle von Vernachlässigung zu verzeichnen, gefolgt von psychischer Misshandlung mit 21 943 Fällen, körperlicher Misshandlung (16 555 Fälle) und sexueller Gewalt (3 386 Fälle). Insgesamt hat die Zahl der Kindeswohlgefährdungen 2023 einen neuen Höchststand erreicht. Laut Statistischem Bundesamt stiegen die registrierten Fälle im Vergleich zum Vorjahr um mindestens zwei Prozent oder 1 400 auf insgesamt 63 700 Fälle. Allerdings fehlten noch Daten aus zahlreichen Jugendämtern. Schätzungen gehen von einem tatsächlichem Anstieg um bis zu 5 000 Fälle auf 67 300 Fälle aus. Die betroffenen Kinder waren im Schnitt acht Jahre alt. Alle Zahlen geben nur das Hellfeld betroffener Kinder an.
Säuglinge lebensgefährdet
„Vernachlässigung ist schwerer zu definieren als andere Misshandlungsformen – es ist ein Nichthandeln von Eltern, ein Nichtwahrnehmen von Fürsorgepflichten, in ihren Folgen auch abhängig vom Alter der betroffenen Kinder“, erläuterte Kinder- und Jugendpsychiater Fegert. Für Säuglinge sei Vernachlässigung, etwa mangelnde Ernährung, relativ schnell lebensbedrohlich; ein Schulkind könne sich hingegen in einem wohlhabenden Land eventuell selbst helfen, leide aber langfristig unter Mangelernährung. Verkehrsunfälle, Unfälle im Haushalt oder Fensterstürze seien eine Folge von fehlender Aufsicht, also ebenfalls eine Vernachlässigung. Mangelnde Zahnhygiene habe langfristige Folgen für die Zahngesundheit. Zahnärzte sehen laut Fegert anhand des Zahnzustands sehr schnell eine Vernachlässigung, etwa in Form von Nuckelflaschenkaries. Bei falscher Kleidung im Winter friere das Kind nicht nur, auch soziale Ausgrenzung könne eine Folge sein; ebenso bei mangelnder Hygiene oder schmutziger Kleidung.
Emotionale Vernachlässigung, etwa bei Depression der Mutter, psychisch kranken oder suchtkranken Eltern habe langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern. Auch unter einem gewalttätigen Umgang der Erwachsenen in der Familie oder bei einem längeren Aufenthalt im Frauenhaus „leiden die Kinder massiv“, so der Kinderpsychiater.
Somatische Folgen
Auf die somatischen Folgen von Vernachlässigung wies Dr. med. Oliver Berthold von der Medizinischen Kinderschutzhotline hin: Minderwuchs, Untergewicht, Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder inadäquat behandelte Erkrankungen. Lebensbedrohlich sei ein inadäquater Umgang mit Krankheit vor allem für chronisch kranke Kinder. Bei Diabetes Typ I führe etwa eine fehlende Insulingabe zwangsläufig zum Tod, so der Kinder- und Jugendarzt. Wirkten Eltern beispielsweise einer kindlichen Adipositas nicht entgegen, könne dies zu einem Metabolischem Syndrom, Gelenkverschleiß, Fettleber, Herzinfarktrisiko, sozialer Isolation und Depression führen. Gleichzeitig mitentscheidend für die Ausbildung einer kindlichen Adipositas sei aber auch die gesellschaftliche Prioritätensetzung und politische Entscheidungen, die gesunde Ernährung fördern oder eben nicht.
Wenn Ärzte und Psychotherapeuten vernachlässigte Kinder sehen oder einen Verdacht haben, können sie sich an die Fachkräfte der Medizinischen Kinderschutzhotline wenden, um das Vorgehen zu beraten (Kasten). Verdachtsfälle können auch immer dem zuständigen Jugendamt gemeldet werden, bei dem alle Daten zusammenlaufen.
Um vernachlässigten Kindern zu helfen, empfiehlt Berthold eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und gegebenenfalls mit Familiengerichten. „Die Medizin muss mit ins Boot, nicht nur um zu sagen, welchen Schaden das Kind bereits genommen hat. Wir können die Erheblichkeit der Folgen einschätzen, die dem Kind bei unverändertem Fortgang der Dinge drohen. Und wir können beurteilen, was das Kind aus medizinischer Sicht braucht, damit es sich gut entwickelt“, konstatierte der Kinder- und Jugendarzt.
Psychische Folgen
Auf die psychischen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen wies Dr. Marc Schmid, Leitender Psychologe Forschung, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, hin: „Die betroffenen Kinder hören auf, sich selbst zu lieben. Sie haben ein Leben lang Probleme mit der Selbst- und Beziehungsregulation.“ Das Risiko für eine psychische Erkrankung sei bei Misshandlung und Vernachlässigung deutlich erhöht. In der Chronologie von der Geburt bis zur Adoleszenz sehe man Bindungsstörungen, Angststörungen, bipolare Störungen, Oppositionelles Verhalten, Störung des Sozialverhaltens, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, affektive Störungen, Substanzmissbrauch, Selbstverletzung und Suizidalität. Niedriger ist dem Psychologen zufolge auch die kognitive Leistungsfähigkeit, was mit einem geringerem Schulerfolg einhergehe. Traumatische Kindheitserfahrungen führten zu Armut: Das relative Risiko im Alter von 50 Jahren arm zu sein, sei dreimal höher als in der Normalbevölkerung. Zudem seien sie eng mit Gefühlen von Einsamkeit und einer problematischen Nutzung des Internets assoziiert. „Betroffene Personen rutschen immer mehr in die gesellschaftliche Isolation“, sagte Schmid.
Der Psychologe empfiehlt Ärzten und Psychotherapeuten bei einem Verdacht auf Gewalt oder Vernachlässigung immer bei ihren Patienten nachzufragen. „Viele tun sich schwer damit oder sind unsicher, ob die Frage eine Retraumatisierung auslösen könnte. Das ist definitiv nicht der Fall.“ Wichtig sei, ins Gespräch zu kommen, um helfen zu können. ■
Beratungsangebot bei Verdacht
Die Medizinische Kinderschutzhotline ist ein kostenfreies deutschlandweites telefonisches Beratungsangebot für Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten bei allen Fragen zum Kinderschutz. Geschulte Ärztinnen und Ärzte aus der Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie und Rechtsmedizin beraten dort rund um die Uhr zu allen vermuteten Fällen einer Kindeswohlgefährdung.
Onlinekurs zu Kindesmisshandlung startet
Der Onlinekurs „Kindesmisshandlung erkennen und dokumentieren in der Medizin“ vermittelt Kinderärzten, Kinderchirurgen, Notfallmedizinern und medizinischen Dokumentaren spezifische Informationen zum Kinderschutz. Hierunter fallen neben allgemeinen theoretischen Grundlagen zu Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, unter anderem die Kodierung von Kindesmisshandlung, rechtliche Grundlagen, die Gesprächsführung und die Partizipation von Kindern und Eltern in der Gesundheitsversorgung. Der Kurs wurde gemeinsam von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm und dem nationalen schwedischen Kinderschutzzentrum Barnafrid an der Universität Linköping entwickelt. Die Bearbeitungszeit der Kursinhalte beträgt insgesamt etwa 20 Stunden. Der nächste Kursdurchlauf startet am 1. Oktober.
Informationen: https://elearning-childprotection.de
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